Zuletzt aktualisiert am 17. April 2020
Wir Eltern glauben manchmal, wir wüssten so einiges besser als unsere Kinder. Ich wurde zum Beispiel von meinen Eltern immer nochmal auf’s Klo geschickt bevor wir das Haus verließen. Ob ich musste war egal. Dabei ist jeder von uns Experte für seinen eigenen Körper. Wer könnte besser wissen ob ich auf’s Klo muss als ich?
Ok, das ist ein triviales Beispiel. Aber genau da fängt es an. Wir sprechen unseren Kindern ab, ihren eigenen Körper zu kennen! Wie sollen unsere Kinder dann zu selbständigen Erwachsenen werden?
Wer war Janusz Korczak?
Janusz Korczak (geborener Henryk Goldszmit) wurde um 1878 in Warschau geboren. Wobei „Janusz Korczak“ sein Künstername ist. Er war Kinderarzt, Kinderbuchautor und Pädagoge. Er leitete ab 1912 das Waisenhaus Dom Sierro und später das Waisenhaus Nasz Dom in Warschau. In diesen Waisenhäusern lebte er mit den Kindern zusammen nach den Rechten für Kinder. Wie ich finde, die Grundlage für unsere heutigen Kinderrechte.
Korczak sieht in Kindern vollständige Menschen
Ich fürchte, dass viele Erwachsene immer noch glauben, dass Kinder noch nicht fertig sind, dass wir Erwachsenen etwas in sie hinein füllen müssen. Dass Kinder unfähig sind, nichts wissen und bei jedem Schritt auf dieser Welt jemanden brauchen, der ihnen haarklein sagt, was sie zu tun haben. Ich denke nicht so. Ich war sehr erstaunt, dass Korczak gerade in der Nazi-Zeit ein Gedankengut trug, dass seiner Zeit schon weit voraus war.
Kinder sind kompetente Wesen
Korczak sah Kinder als selbständige Individuen an, als kompetente Wesen. Er sprach den Kindern das Recht auf Mitsprache zu, auf eigene Gedanken und Geheimnisse. Er betrachtete Kinder als vollständige Menschen, die eigene Gefühle haben dürfen und die ein Recht auf Kindachtsame Erwachsene haben.
Korczak forderte die Magna Charta Libertatis auch für Kinder. Ich finde, das hört sich ziemlich krass an. Auf den zweiten Blick jedoch macht es für mich total Sinn:
„Ich fordere die Magna Charta Libertatis, als ein Grundgesetz für das Kind. Vielleicht gibt es noch andere – aber diese drei Grundrechte habe ich herausgefunden:
Das Recht des Kindes auf seinen eigenen Tod
Das Recht des Kindes auf den heutigen Tag
Das Recht des Kindes, so zu sein, wie es ist.“
(Korczak, Janusz (2012): Wie man ein Kind lieben soll. Vandenhoek & Rprecht, Göttigen, S. 40)
Kinder haben das Recht auf den eigenen Tod
Mit dem Recht auf den eigenen Tod will Korczak sagen, dass Eltern durch ihre eigene Angst Kinder nicht in ihrer Entwicklung bremsen sollen. Dies im vollem Umfang zu denken, fällt uns Eltern natürlich schwer. Wer will schon an den Tod des eigenen Kindes denken. Es geht hier darum Kinder auch Risiken eingehen zu lassen. Die Kinder aus übertriebener Angst daran zu hindern, sich zu entfalten und ihre eigenen Grenzen zu entdecken halte ich jedoch nicht für richtig. Dies habe ich in meinem Artikel über Helikopter-Eltern bereits beschrieben.
Kinder haben das Recht auf den heutigen Tag
Kinder leben im Hier und Jetzt. Vor allem die ganz kleinen Kinder können uns dies wieder beibringen, wenn wir uns die Zeit nehmen sie zu beobachten. Je älter Kinder werden, desto eher nehmen sie die Zeit so war, wie wir Erwachsenen das tun. Noch im Teenageralter ist dieses Empfinden und die Fähigkeit Zeit und Zukunft zu planen nicht so ausgebildet wie bei Erwachsenen.
Korczak meint damit, dass wir den Kindern Zeit geben sollen, die nicht verplant ist. Zeit für das freie Spiel, indem Kinder sich ausprobieren können und ihren eigenen Interessen nachgehen können.
Kinder haben das Recht sie selbst zu sein
Jedes Kind hat das Recht darauf so zu sein wie es ist. Korczak möchte, dass Kinder in ihrer Individualität anerkannt werden und sich nicht nach den Erwartungen von Erwachsenen verbiegen sollen.
Ich denke, wir sollten uns wirklich frei machen unsere Kinder so kennen zu lernen wie sie sind.
- Welche Fähigkeiten hat mein Kind?
- Wo sind die Stärken, die ich weiter fördern kann?
- Welche Interessen hat mein Kind?
Und eben nicht: Was sollte es noch lernen? Was kann es noch nicht? Wo sind seine Schwächen, die ausgebessert werden müssen.
Selbstständige mündige Menschen als Ziel
Das Ziel Korczaks Pädagogik ist ein Höchstmaß an Selbstständigkeit. Wenn ich mir die Zeit ansehe, in der er lebte, muss ich daran denken, dass viele Menschen nicht mehr selbständig gedacht haben, bzw. sich nicht mehr getraut haben. Seine Forderung nach der Selbständigkeit fördert eine Gesellschaft mit individuellen Persönlichkeiten, die sich selbst ein Bild von der Welt machen und ihre eigenen Entscheidungen treffen und nicht einer Ideologie hinter her rennen müssen, um sich zugehörig zu fühlen. Wir suchen uns unsere eigene Community, die unsere Werte lebt und nicht umgekehrt.
Heute ist das Ziel der pädagogischen Erziehung die Mündigkeit des Menschen anzustreben. Die Mündigkeit wird als hehres Ziel angesehen, die zu erreichen nur als richtungsweisender Stern angesehen werden kann. Die Mündigkeit kann eine Person nur selbst entwickeln. Wir Eltern und Erzieher*innen können, die Kinder und Jugendlichen auf ihrem Weg dort hin begleiten.
Janusz Korczak fordert von Kindern ein Höchstmaß an Selbstständigkeit
Janusz Korczak lehrt uns, dass es für Kinder immens wichtig ist selbstständig zu werden. Er führte ab 1912 ein Kinderheim, in dem er ein Kinderparlament, ein Kameradschaftsgericht, eine Kinderzeitung und eine Anschlagstafel für die Kinder etablierte.
- Im Kinderparlament entschieden die Kinder selbst darüber, welche Regeln im Kinderheim gelten sollten.
- Im Kameradschaftsgericht sorgten die Kinder dafür, dass diejenigen, die sich nicht an die Regeln hielten eine passende Strafe bekamen.
- Die Kinderzeitung wurde ausschließlich von Kindern und Jugendlichen geschrieben und erschien als Beilage in der jüdischen Tageszeitung
- <span“>Die Kinder waren selbst dafür verantwortlich sich an der Anschlagtafel im Kinderheim über Neuigkeiten zu informieren, die sie selbst betrafen.
Wie können Eltern Korczaks Ansätze umsetzen?
Für uns Eltern möchte ich mitnehmen, dass Korczak Kinder als selbständige, kompetente Wesen ansieht. Kinder können Entscheidungen treffen, die ihren eigenen Körper anbelangen. Von Anfang an wissen Kinder, ob sie Hunger haben, ob sie müde sind, ob sie Sauberkeit oder ob sie Nähe brauchen. Wir Erwachsenen müssen lernen die Signale unserer Kinder zu lesen und achtsam darauf einzugehen.
Da schon Babys wissen wann sie Hunger haben, stillen wir heute nach Bedarf. Nach Bedarf Stillen heißt, sich dem Rhythmus und dem Bedürfnis des Kindes anzupassen und nicht nach der Uhr zu stillen, wie es früher gemacht wurde. Mit dem Bedürfnis nach Schlaf können wir ebenso verfahren. Ich habe meine Tochter immer schlafen gelassen und habe sie nie geweckt, wenn ich konnte. Seit sie in den Kindergarten geht sind diese Zeiten vorbei. Und trotzdem lasse ich auch heute noch schlafen, wenn sie müde ist. Erst gestern saßen wir 2 Stunden im Café, meine Tochter auf meinem Schoss, schlafend.
- Hunger haben
- satt sind
- Schlafen wollen
- sauber gemacht werden wollen
- Nähe und Zuwendung brauchen
Je älter Kinder werden, desto mehr Verantwortung können sie übernehmen. Kleine Kinder entscheiden Dinge die ihren eigenen Körper betreffen selbst. Sie können selbst entscheiden was sie anziehen. Die Sachen passen vielleicht nicht zusammen und sind auch für das Wetter völlig unpassend. Trotzdem lasse ich meine Tochter tragen was sie möchte. Es ist ihre Entscheidung. Ich packe ihr entsprechend dem Wetter weitere Anziehsachen ein, damit sie die warme Jacke griffbereit hat, falls ihr doch kalt wird.
- was sie anziehen wollen
- wann sie „trocken“ werden wollen
- wann sie zur Toilette gehen wollen
- wann sie schlafen möchten
- was sie essen oder trinken wollen
- was sie spielen wollen
- bei wem sie auf den Arm wollen
- wer sie küssen darf
- …
Wenn Kinder ihr eigenes Zimmer haben, dann ist das ihr Zimmer. Die Grenze des Kindes ist nun nicht mehr nur der eigene Körper, sondern das eigene Zimmer, der eigene Schreibtisch. Kindern fordern diese Räume ein und wir sollten ihnen diese geben. Auch wenn es nur kleine Räume sind, wie die Höhle unter dem Esstisch. In diesem eigenen Raum darf das Kind schalten und walten wie es will. Es darf nicht lüften und Unordnung haben. Die Autonomie des Kindes und damit die Selbstständigkeit des Kindes ist für mich ein höherer Wert als Ordnung. Mein Bedürfnis nach Ordnung und Sauberkeit stelle ich dabei zurück.
Auch bei der Freizeitgestaltung können Kinder mitsprechen. Kinder haben zu vielen Dingen eine Meinung. Wenn meine Tochter sich nicht einbringen will, ist dies auch ihre Entscheidung. Dann entscheide ich selbst. Am Wochenende fahren wir ins Schokoladenmuseum. Ich will raus und meine Tochter hat das Schokoladenmuseum vorgeschlagen.
Welches Hobby möchte mein Kind haben. Ich wähle das Hobby meines Kindes nicht danach aus was sie meiner Meinung nach machen sollte. Ich gucke mir an was sie gut kann. Sie hat eine hohe Fähigkeit ihren Körper zu beherrschen. Sie ist sehr geschickt im Gleichgewicht halten, im Bewegen an sich. Ich gab meiner Tochter Anregungen was es für Möglichkeiten gibt, etwas aus diesen Fähigkeiten zu machen. Nach 3 Wochen Turnen sagte sie, dass sie da nicht mehr hin will. Nun ist sie schon 3 Monate beim Ballett. Ich bin gespannt wie lange sie dieses Hobby begleiten wird. Wie lange sie Spaß daran hat und wann und ob sie etwas Neues anfängt. Nächstes Jahr geht sie in die Grundschule und wird dort viele neue Eindrücke sammeln und ihre Welt wird immer ein Stück größer.
Es ist einfach toll sie dabei zu begleiten, wie sie ihre eigenen Entdeckungen macht.
Kinder entscheiden, wie sie ihre Freizeit verbringen möchten.
Gib‘ deinem Kind seine Stimme zurück
Ich schätze die meisten von uns wurden anders erzogen, als wir uns das heute für unsere eigenen Kinder wünschen. Ich unterstütze jede Mutter und jeden Vater, die sagen, dass sie ihre Kinder anders erziehen wollen. Die Frage ist nur: Wie anders?
Ich lade dich ein, deinem Kind seine Stimme zurück zu geben. Hör genau zu, was dein Kind tun möchte.
- Welche Entscheidung betrifft den Körper meines Kindes?
- Welche Entscheidung betrifft seinen eigenen Raum?
- Welches sind hier vielleicht meine Bedürfnisse und wo kann ich loslassen und meinem Kind seine eigene Entscheidung lassen?
Schreib mir doch gerne unter coaching@sonja-martin.com oder hier direkt als Kommentar, wo es dir noch schwer fällt deinem Kind seine eigene Entscheidung treffen zu lassen, es mitbestimmen zu lassen, wo es dir schwer fällt diese Macht abzugeben. Schreib‘ mir auch, wenn du es schon immer so gemacht hast oder wenn du es geschafft hast deinem Kind seine Stimme zu lassen.
Ich habe zwar selber keine Kinder, aber ich war gerade die ganze Ziet dabei und fand den Artikel so schön geschrieben. Ich hätte so viel zu sagen.
Es ist richtig das die Kinder das machen sollen, was sie gerne machen möchten, aber ein bisschen sollte man aufpassen oder eher als Aufpasser dastehen, weil sie manchmal noch zu unbeholfen sind und viele Gefahren noch nicht einschätzen können.
Das was ich an Kindern bewundere, das sie im hier und jetzt Leben. Da können wir uns noch eine Scheibe abschneiden und können uns da noch etwas abgucken.
Wir sind nicht mehr darauf fixiert, den Moment zu genießen sondern immer nur in der Vergangenheit oder Zukunft.
Das muss ich manchmal erkennen
Hallo Stephan,
danke für deinen Kommentar! Im „Hier-und-Jetzt“ zu sein haben die meisten Erwachsenen tatsächlich verlernt, und können in dieser Hinsicht viel von ihren Kindern lernen.
Kinder wollen vieles selbst tun und sie wollen es oft nicht alleine tun. Sie brauchen zugewandte Erwachsene, die sie bei ihrer Entwicklung begleiten.
Liebe Grüße!